Freitag, 17. Juni 2016

Lektüre-Empfehlung
Wahrscheinlich ist es das wichtigste Buch, das im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt erscheint – und zum 25. Jahrestag des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrages. Weshalb? 

Weil das zweisprachige, von Mateusz Hartwich und Uwe Rada herausgegebene Berlin und Breslau. Eine Beziehungsgeschichte wichtigtuerisch-offizielle Sprechblasen meidet, keine Goldrandtexte versammelt, sondern kluge und kreative Überlegungen, Erinnerungen, Kommentare, Vorschläge zur Geschichte beider Städte. Ein reader im besten Wortsinn!

Der Historiker Krzysztof Ruchniewicz erinnert z.B. daran, wie die polnische Beschäftigung mit dem deutschen Antinazi-Geistlichen Dietrich Bonhoeffer auch im Kampf gegen die kommunistische Diktatur half. Die Kunsthistorikerin  Beate Störtkuhl schreibt über die Breslauer Architektur-Moderne 19001933, der Kulturwissenschaftler Mateusz Hartwich über die Geschichte des sogenannten „Bevölkerungsaustauschs“ nach 1945, Jerzy Kichler über „Wiedergewonnene jüdische Geschichte“, Roswitha Schieb über „Schlesische Spuren an der Spree“*, Agata Gabis über den Wiederaufbau nach dem Krieg, der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (wohltuend uneitel) über die Breslau-Erinnerungen seiner Familie und Robert Żurek über die Versöhnungsgeste des polnischen Bischofsbriefs von 1965, die damals in Deutschland kaum ein Echo fand. 

Aus dem Text des Historikers Andrzej Debski erfuhr ich, dass bei Filmdreharbeiten 1958 in Wrocław just hier der Schriftsteller Marek Hlasko („der polnische James Dean“) den westdeutschen Heimatfilmstar Sonja Ziemann kennenlernte und Marlene Dietrich 1966 im Hotel Monopol den ein Jahr später am Wrocławer Hauptbahnhof tödlich verunglückten Zbigniew Cybulski traf, dessen Rolle in Andrzej Wajdas Asche und Diamant sie zutiefst beeindruckt hatte. Und Steven Spielberg hatte die Ostberlin-Szenen zu Bridge of Spies zwischen den Gründerzeithäusern im Viertel Nadodrze gedreht, dessen Ähnlichkeit (und Differenz) zu Berlin-Kreuzberg wiederum der versierte Stadtkenner Uwe Rada nachgeht. Und und und – der Entdeckungen sind kein Ende. 

Am Schönsten und Treffendsten jedoch Krzysztof Ruchniewicz, dessen Resümee man vor allem jenen älteren deutschen Kulturreisenden ans Herz legen möchte, die mitunter einen Tick zu selbstgewiss über den Rynek stolzieren: 
„Heute ist Breslau zu Recht stolz auf viele wunderschön renovierte Denkmäler. Ist es ein Verdienst der Erbauer, der Deutschen? Breslau wurde doch von Polen wiederaufgebaut. Sind es deswegen ‚polnische‘ Denkmäler? Diese Frage so zu stellen, führt ins Nirgendwo. Vielleicht gehört es zum Genius loci dieser Stadt, dass die Denkmäler der einen und die Leistung der anderen miteinander in einen Dialog treten, ein Miteinander über Grenzen und Epochen hinweg gestalten können.“

Voilà …

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Herausgegeben von Mateusz Hartwich und Uwe Rada
Berlin und Breslau. Eine Beziehungsgeschichtebe.bra-Verlag 2016
weitere Informationen

* Roswitha Schieb:
Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree
Verlag Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2012
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1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Betreffs des Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrages ist ebenso wohlwollend zu erwähnen die soeben erschienene Reihe DEUTSCH-POLNISCHE ERINNERUNGSORTE von den Herausgebern Hahn und Traba.

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