Mittwoch, 8. Juni 2016

Nachtrag zum Wochenende.

"Was für ein Tag!", sagte mir am Samstag eine Wrocławer Bekannte. So wie ich den 19. Mai 1989 – Tag der Ausreise unserer Familie aus der DDR – fast wie einen zweiten Geburtstag erinnere, ist für sie der 4.  Juni 1989 ein ganz besonderes Datum: Die ersten (vorerst noch halb-)freien Wahlen in Polen. Auch wenn rechte Ideologen seit langem versuchen, diese enorme Zäsur mit dem puristischen Verweis auf vermeintliche "Inkonsequenz" klein zu reden oder gar aus dem nationalen Gedächtnis zu löschen – für Millionen Menschen nicht nur in Polen, sondern in ganz Mittel- und Osteuropa ist dieser Tag einer der schönsten ihres Lebens. Diese wunderbare Erinnerung: Da gingen Menschen hinaus auf die Straße – doch weder um mit Überdruss einer offiziellen Demonstration beizuwohnen noch sich ängstlich einem Protestmarsch anzuschließen. Gingen stattdessen erhobenen Hauptes und in die Sonne blinzend zu Wahlurnen, die – zum allerersten Mal im Leben – etwas bedeuteten und die Chance boten, die kommunistischen Macht-Usurpatoren abzuwählen. (Fast schon therapeutische Überlegung: Wie krank müssen eigentlich bestimmte Geschichtsrevisionisten sein, um diesen auch psychologisch so entscheidenden Tag zu marginalisieren?) 

Meine Bekannte jedenfalls war damals Austauschstudentin in Ostberlin und lief von ihrem Studentenheim am Franz-Mehring-Platz – wo auch das Neue Deutschland seinen Sitz hat, früher Sprachrohr der Staatspartei SED, heute eine angeblich "linke Tageszeitung" – hinüber zum Alexanderplatz, an dessen Rand sich das Polnische Institut befand. (Auf der Karl-Liebknecht-Straße, genau dort. wo ein paar Monate später die Berliner Herbst-Demonstranten ihr "Wir sind das Volk" skandieren würden.) Am gleichen Tag in Peking: Der Massenmord an den protestierenden Studenten vom Tiananmen-Platz. Und während am letzten Wochenende Hunderttausende Hongkonger an "4th June" erinnerten, störte auch dort ein Rudel rechtsnationaler "Patrioten" die Gedenkveranstaltung mit der Parole, man solle sich lieber um Hongkongs "Identität" kümmern und nicht "halb-marxistischen Studenten" hinterher weinen. Wie sich die empathielose Wirrnis der furchtbaren Abstrahierer gleicht, überall auf der Welt.      

Die heute Mittvierzigjährige aus Wrocław aber stelle ich mir jetzt als noch ganz junges Mädchen vor, die an jenem Sommertag vor 27 Jahren durch das damals noch so stagnierend-öde Ostberlin/"Hauptstadt der DDR" ging, der Freiheit entgegen, einem neuen, selbstbestimmten Leben. Geschichten und Biographien sind dies, zu wertvoll und kostbar, um sie zu vernachlässigen oder zu marginalisieren. 

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