Mittwoch, 1. Juni 2016

Julio Iglesias in town.
In einem der wunderbaren "Herr Cogito"-Gedichte von Zbigniew Herbert gibt es diese Lobeshymne auf die Schlagersternchen: "dank ihnen/bestimme ich präzise/die daten meines lebens// beschirmt wird es/ von Dalida/ Halina Kunicka/ Irena Santor/ den guten feen// dank ihrer/ ward die tyrannei/ verschönt/ durch schlager// ihnen geziemt/ das wort danke/ ein zärtlicher platz/ im gedächtnis/ ihre namen gemeinsam/ auf der steinernen tafel/ mühseligen daseins"

Nun war es aber keine steinerne Tafel, sondern eine Litfasssäule, auf der ich u.a. dieses Plakat entdeckte, Werbung für Julio Iglesias´ Polen-Tour und das Wrocław-Konzert am 2.Juni. 



Die Säule mit dem Bild des alterslos schmalztollig Lächelnden steht auf dem Plac Kościuszki, die ein besonders phantasiebegabter Stadt-Aficionado einmal mit der Pariser Place Vendôme verglichen hat. Schicksal solcher Vergleiche: Sie wenden sich sofort gegen den Herkunftsort des Vergleichenden, während die Phantasie (und erst recht die frei assoziierende Erinnerung) so etwas nicht fürchten muss. Also Julio Iglesias. Genauer: Julio Iglesias und der Osten. Noch präziser: Julio Iglesias und der Vor-89er Osten. Ich stehe, hinter mir der rasselnde Auto- und Tramverkehr der breiten Ulica Świdnicka, vor diesem Plakat, und stelle mir vor, dass einst polnische Frauen (Typ Mutter oder Schwiegermutter) von dem Spanier ebenso geschwärmt hatten wie deren ostdeutsche oder sowjetische Altersgenossinnen. Und dass deren jeweilige Ehemänner – von Wittenberg bis Wladiwostok recht häufig ins schnurrbärtig-bäuchig Bärenhafte changierend – angesichts des geschniegelten Beau nichts anderes zu brummen wussten als das mürrische Gerücht, so ein dauernd von AMOR-AMOR säuselnder Typ sei wahrscheinlich ohnehin schwul. (War´s so, Ihr würdigen Damen, die Ihr nun am Donnerstag zum Konzert in die Jahrhunderthalle pilgern werdet, in Erinnerung an vergangene Jahrzehnte? Ich werde es nicht erfahren, da auch ein mit offiziellem Tamtam inaugurierter Stadtschreiber von hiesigen Kultur-Events vor allem durch polnischsprachige Websites erfährt – oder auch nicht – jedenfalls ganz egalitär und demokratisch.)

Immerhin: Der solcherart angeschwärmte Julio Iglesias, der das Fehlen lokaler, maskuliner Eleganz für ein paar Song-Minuten vergessen ließ, war A-Klasse. Im Unterschied – mein Erinnerungskarussell dreht sich weiter – zum inzwischen bejahrten italienischen One-Hit-Sternchen Ricardo Fogli, den ich 2008 in einer klirrenden Sylvesternacht in Odessa oberhalb von Eisensteins berühmten Treppenstufen sein "Storie di tutti i giorni" anstimmen hörte, angefeuert von Maschkas mit Pelz und roter Nase. Da er bald nichts mehr Eigenes zu singen wusste, kündigte er über das krächzende Mikro "now very famous England Song" an, beließ es aber bei den ersten Akkorden von "Help" – wahrscheinlich aus Furcht vor Paul McCartneys Tantiemen-Anwälten, deren Spürsinn wohl auch einem Joseph McCarthy gefallen hätte. (Haha.) 

Bailando, bailando … Doch ist dieser Song bereits von Enrique, Iglesias junior, und die Gruppe, mit der er den Megahit aufgenommen hatte, kommt aus Kuba und nennt sich "Gente de Zona", auf gut deutsch: Zonen-Leute

Womit wir – übrigens noch immer zur sonnenhellen Mittagszeit auf dem Plac Kosciuszki stehend – wieder bei jenen schönen Zbigniew-Herbert-Versen angekommen wären. Denn mit welcher Inbrust sangen die Chicas und Chicos von Havanna Enriques Song, wobei sie mir jedes Mal verschwörerisch zublinzelten, wenn der Refrain zu No puedo más kam. Verzweifelte Feinheit diktatur-dominierter Wahrnehmung: Wo Iglesias junior von emotionaler Überforderung sang, intonierten die jungen Halbgötter- und Göttinnen von Havanna den Ausruf Ich kann nicht mehr als Ausdruck ihrer Müdigkeit angesichts eines sklerotischen, aber noch immer bösartig mächtigen Regimes, das zusammen mit den üblichen Che Guevara-Plakaten vor allem diesen herrischen Slogan an die Häuserwände pinseln lässt: "Man kann immer mehr – Fidel."  Bah! Nein! No puedo más …



"Diese Anspielungen trauen sie sich also schon? Wie mutig, wie schön …" 

Es spricht: Mario Vargas Llosa, in Madrid lebender Literaturnobelpreisträger aus Perú und seit gefühlten Ewigkeiten mein Idol (gleich neben Albert Camus) – auch und vor allem, weil der politisch luzide und literarisch dionysische Essayist und Romancier so gar nichts prätentiös Säulenhaftes an sich hat. Unsere Wiederbegegnung in Madrid vor drei Monaten ebenso herzlich-unkompliziert wie all die Treffen zuvor in Berlin oder Mexiko. "Ha, dann singen sie in Kuba also Enriques Song auf diese Weise!", freute sich der Anfang der siebziger Jahre von Fidel Castro höchstpersönlich als "Gusano/Wurm" geschmähte Antitotalitäre. Und linste gleichzeitig hoch zu jenem gerahmten Bild, das Enriques Mamá zeigte, das berühmt-berüchtigte ehemalige Topmodell Isabel Preysler, seit einem Jahr Mario Vargas Llosas neue Lebensgefährtin. Da saßen wir also in der Madrider Villa von Julio Iglesias´ Ex-Frau, in der nun Vargas Llosa Quartier bezogen hatte (draußen vor der Mauer des Anwesens mitunter Paparazzi) und sprachen … Über den Zbigniew Herbertschen Charakter mancher Schlager, welche die Tyrannei wenigstens ein bisschen überstehen helfen.




Und danach, in den abendlichen Ausgeh-Bars und Clubs des Stadtviertels Chueca, inmitten von Latinos und Latinas, die aus Castro-Kuba und dem ebenso staatssozialistisch heruntergewirtschafteten Venezuela geflüchtet waren: "Que, Du kennst Mario Vargas Llosa, verdad? Den Neuen von der Mamá von Enrique Iglesias?"

Schräges Schicksal des Romanciers und Nobelpreisträgers – denke ich, nun langsam wieder den Blick vom Plakat des längst verlassenen Julio abwendend: Vor allem erinnert zu werden als der greise Geliebte der ebenfalls nicht mehr so jungen Mutter (bzw. Ex) eines Schlagerstars? Nicht ganz. Schließlich flogen bei den anschließend gegenseitig ausgegebenen Drinks & Cervezas die Titel (und Inhaltsangaben) von Super-Marios gigantischen Romanen nur so hin und her, vor allem jenes hocherotische Lob der Stiefmutter, sogleich gefolgt vom Hauptmann und sein Frauenbataillon

Während es hier, letzter logischer Dreh zurück nach Wrocław, durchaus passieren kann, auch von weitaus Jüngeren zu einem nachmitternächtlichen Bier oder einer Zigarette eingeladen zu werden, wenn man mit einer gewissen kleinen Kenntnis die hiesigen Zauberer preist: Herbert Miłosz Rózewicz. Vor allem natürlich Czesław Miłosz: Den skeptischen Gläubigen, den Diktaturenfeind und wissenden Erotiker. Diese Art der Dreieinigkeit, spekuliere ich, wird wahrscheinlich vor allem von Katholiken geschätzt und zelebriert – von Havanna/Lima/Madrid bis Warschau/Krakau und Wrocław. Vamos, auf ein tolles Konzert in der Jahrhunderthalle, Amor-Amor, puedo más, bailando …
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2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Marko, wie immer ein interessanter Beitrag, eine kleine Korrektur muss dennoch sein - Bailando stammt von Loona, Sie meinten wahrscheinlich Bailamos, kleiner, doch feiner Unterschied. Mit über 30 Lanzen und jahrelanger MTV-Erfahrung ist man in der Disco-Welt gut bewandert. Gruß!

MARKO MARTIN hat gesagt…

Der Latino-Pop-Fan bleibt bei seiner Version:-))

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