Samstag, 6. August 2016

In Deutschland kaum bekannter Visionär europäischer Versöhnung: Kardinal Bolesław Kominek

Welch ein Kontrast! Während in Deutschland die Geschichte von Willy Brandts Warschauer Kniefall längst Teil des nationalen Gedächtnisses ist, scheint der Name von Bolesław Kominek weiterhin unbekannt zu sein. Auch eine Ausstellung im Berliner Abgeordnetenhaus hatte daran nichts ändern können, denn wer verirrt sich schon dahin?

Die Original-Breslauer Ausstellung – noch zu besichtigen bis zum 26. September – aber zieht noch immer unzählige Besucher ins sogenannte Arsenal, ein trutzig anmutendes Backsteingebäude aus dem 15. Jahrhundert. 



Doch nicht die historische Waffenausstellung ist der Magnet, sondern die Geschichte jenes 1903 geborenen Bolesław Kominek, an den seit 2005 auf der Sandinsel, der größten der Breslauer Oderinseln, sogar ein überlebensgroßes Denkmal erinnert. Der polnische Kardinal nämlich war 1965 der Verfasser jenes Hirtenbriefs an seine deutschen Glaubensbrüder, der in dem später historisch gewordenen Satz gipfelte: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Das kommunistische Regime schlug damals sofort Alarm: In polnischem Namen die deutschen Naziverbrechen vergeben – und gleichzeitig für die Vertreibung der Deutschen um Vergebung bitten? Was, wenn diese Botschaft tatsächlich gehört und in der Bundesrepublik ein Bewusstseinswandel stattfinden würde – was, wenn ein verändertes Westdeutschland dann nicht mehr als revanchistischer Popanz dienen könnte?

Was die Kommunisten also sofort als Gefahr begriffen – die deutschen Bischöfe erkannten es nicht als Chance. Antworteten ihren polnischen Glaubensbrüdern auf eine solch kühle, unverbindliche Weise, dass die Parteikommunisten triumphieren konnten: Seht, mit einem solchen Deutschland ist kein Friede möglich, unser Platz bleibt an der Seite der Sowjetunion … Erst fünf Jahre später kam es mit dem Warschau-Besuch Willy Brandts zur Zäsur. Jene zahllosen aufarbeitungsstolzen Deutschen, die den damaligen Kniefall quasi als deutsches Verdienst betrachten, aber seien an den melancholischen Kommentar von Kardinal Wyszynski, damals Primas von Polen, erinnert: „Von den Deutschen erhielten wir alles, was wir wollten – aber nicht von denen, von denen wir es wollten.“

Ein agnostischer deutscher Sozialdemokrat und dazu einige deutsche Protestanten hatten reagiert, nicht aber das Gros der deutschen Katholiken. Die polnische Opposition aber griff in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auf die Worte des couragierten, 1965 so schmählich allein gelassenen Kardinals Kominek zurück, um den Traum von einem vereinten, versöhnungsbereiten und nicht-revanchistischen Europa wachzuhalten. Und auch daran erinnert diese Ausstellung, die mit Bild- und Tondokumenten einen weiten Bogen spannt von Hitlers und Stalins Überfall auf Polen 1939 bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahre 2004. Die menschenfreundliche Vision des 1974 gestorbenen Bolesław Kominek war nun endlich Wirklichkeit geworden. Auf einer der Schautafeln im Arsenal heißt es dazu auf polnisch, englisch und deutsch: „Der Bewusstseinswandel in beiden Ländern hat aus Polen und Deutschen NATO-Verbündete und Partner in der Europäischen Union gemacht. Auch heute noch gibt es Schwierigkeiten, und in beiden Ländern sind Kräfte am Werk, die diese Schwierigkeiten politisch ausnutzen wollen. Aber nichts erinnert mehr an das gegenseitige Desinteresse und den Hass von vor 50 Jahren.“

Es sind nicht nur Geschichtsstudenten, sondern auch viele junge Familien auf Sommerausflug, die gerade vor diesen Worten innehalten und dann leise miteinander sprechen. Unvergessliche, emotional berührende Momente, in denen die Rede von Europa plötzlich konkret wird und Gesichter bekommt. Gesichter von großer Ernsthaftigkeit und wunderbarer Sanftmut.



Jene Gegenwarts-Deutschen aber, die sich Willy Brandts Kniefall von 1970 heute ans Revers heften, als wären sie damals in Warschau gewesen, seien nicht nur an jenen Kardinal Kominek erinnert, sondern auch an die Tatsache, dass nur wenige Wochen nach dem Kanzlerbesuch das kommunistische Regime wieder scharf schießen ließ – auf die revoltierenden Arbeiter von Gdańsk im Dezember 1970, die für ihren Mut einen hohen Blutzoll zahlten.

Frage deshalb: Wie ist es um „unser“ bundesrepublikanisches, sich ein wenig zu oft auf die eigene Schulter klopfendes Geschichtsverständnis bestellt, wie formelhaft die Rede von Scham, Versöhnung, etc., wenn wir von all diesen geschichts-relevanten Tatsachen quasi nur durch Zufall erfahren, freiwillige Gefangene eines geradezu lächerlich selbstbezogenen Aufarbeitungs-Narrativs?




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