Von Breslau nach Jerusalem. Stadtschreiber on tour (I)
„Es war im Juli 1938, als ich von einem Balkon aus die zukünftigen Mörder meines Volkes sah, dort unten auf dem riesigen Areal, wo heute – wie Sie mir gesagt haben – ein schönes neues Musikforum steht. Nun, damals wurden dort ganz andere Melodien aufgespielt. Zackige Märsche, Hitlers von den Massen frenetisch bejubelte Rede, dann der von Goebbels minutiös geplante Aufmarsch der Sudetendeutschen, der den Einmarsch in der Tschechoslowakei atmosphärisch vorbereiten sollte … Norman Davis hat diesem – für Hitler, Göring und Goebbels so entscheidenden Spektakel des `Deutschen Turnfestes´ – mehrere Seiten in seiner großartigen Breslau-Biographie gewidmet, und ich habe ihm daraufhin einen Brief geschrieben. Ich war ja damals dabei, wenn auch keiner der Jubelnden, sondern ein furchtsames sechsjähriges Kind namens Manfred, das, von seinem Kindermädchen auf die so lautstark Feiernden aufmerksam gemacht, bereits Böses ahnte.“
Professor Mordechai Rotenberg, Jahrgang 1932, sitzt in weißem Hemd und Hosenträgern in seiner Jerusalemer Wohnung und schiebt eines seiner zahlreichen Bücher über den Tisch. „The Trance of Terror“ – eine Studie über „psycho-religiösen Fundamentalismus“. Pure Gegenwart: Terror im Namen einer Religion. Auch deshalb die Taschenkontrollen an der Busstation in Tel Aviv, wo alle 20 Minuten die Busse nach Jerusalem abfahren, die erneuten Kontrollen beim Verlassen der Station in Jerusalem. Doch wie schnell und entspannt geht das, wie zivil wirken die jungen Soldaten und Soldatinnen im Bus, die zu ihrer jeweiligen Base zurückfahren, Uniform, Stiefel und Uzi – vor allem aber Smartphone und eine nicht enden wollende Freude am Flirten.
Wie viele Menschen, denke ich auch dieses Mal, wären gerettet worden, hätte es dieses Israel schon 1938 gegeben. Wäre nicht gerade damals die Einwanderung der Verfolgten durch die Briten im damaligen Mandatsgebiet Palästina gedrosselt worden – auf Druck arabischer Feudalherren, die auf den benachbarten, brachliegenden Feldern keine emanzipatorischen Zionisten wollten, die den „arabischen Massen“ womöglich hätten vorführen können, wie modernes Leben geht. Dabei ist Professor Rotenberg, dem damals mit seiner Familie im quasi letzten Moment die Flucht geglückt war – über Jugoslawien hinunter nach Triest, dann mit einem Schiff nach Tel Aviv, wo es freilich noch gar keinen richtigen Hafen gab – ein durchaus religiöser Zeitgenosse, dessen Wohnung mit chassidischer Kunst geschmückt ist. Die „Buchdruckerei Rotenberg“, in der sein Vater, ein in Warschau geborener Gelehrter, einst die Abschlussarbeiten Breslauer Studenten druckte, ist freilich längst Vergangenheit, höchstens noch ein Foto im Familienalbum, dessen andere Seiten leer bleiben: Nur wenige der Familie Rotenberg überlebten die Shoah, jenes vom selbsternannten „deutschen Kulturvolk“ angezettelte Menschheitsverbrechen.
Auch deshalb bin ich für ein paar Tage hier im Lande Israel – um jene Ex-Breslauer zu treffen, deutsche und polnische Juden, die noch davon zeugen können, dass ihre Geburtsstadt ja mitnichten erst im Frühjahr 1945 zerstört wurde, sondern alles an jenem 30. Januar 1933 begonnen hatte und sich fortsetzte – auch in jenem Sommerspektakel von 1938, bei dem der kleine Junge Manfred wohl das erste Mal erlebte, wie Massenhysterie angefacht wird. Vielleicht auch deshalb wirkt der inzwischen emeritierte und für sein psycho-soziales Engagement mit dem renommierten Israel-Preis ausgezeichnete Intellektuelle durchaus kühl, gönnt sich an diesem Nachmittag keine Ausflucht ins Joviale. Und dennoch ist da auch Freude: Am Ende dieser Woche wird Professor Rotenberg wieder einmal in Wroclaw sein, die Synagoge zum Weißen Storch besuchen, Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz treffen.
Und: „In den hiesigen Zeitungen schrieben sie, ich wäre der Mann, der Jerusalem gerettet hätte – ein Kid aus Breslau.“ Mordechai Rotenberg schlägt eine Zeitung auf, die ihn als 16jährigen Kämpfer zeigt: Nie mehr wehrlos sein, weder ins Gas getrieben werden noch ins Meer. Als 1948 auf UN-Beschluss der Staat Israel gegründet wurde, hatten noch in der gleichen Nacht fünf arabische Armeen das Land überfallen. In Jerusalem tobten die heftigsten Kämpfe just dort, wo sich heute das französische Kulturinstitut befindet. Und Manfred, der damals bereits den stolzen Namen Mordechai trug – Hommage auf den biblischen Helden, Cousin von Esther, der am persischen Königshof den Kniefall verweigerte – hatte aus dem Fenster eines umkämpften Hauses jenen Molotow-Cocktail geworfen, der ein jordanisches Militärfahrzeug in Flammen aufgehen ließ und den Vormarsch ins jüdisch bewohnte Westjerusalem stoppte.
„Nun gut, das sind so Erinnerungen. Hier, auf dem anderen Bild, mein damaliger Vorgesetzter und ich, inzwischen zwei Greise …“ Und die gerahmte Wandfotografie mit dem Gesicht eines freundlichen jungen Mannes in Uniform? „Mein jüngster Sohn. 1988 bei einem Einsatz ums Leben gekommen.“
Beinahe lapidare Information und gleichzeitig Stoppschild: Trotz der Idylle der Gelehrtenwohnung, trotz des von Pinien gefilterten, auf den Tisch hereinpfeilenden Sonnenlichts – dieser Jerusalemer Nachmittag ist nicht dem erbaulichen Anekdoten-Erzählen gewidmet. Professor Rotenberg, der in Berkeley und New York lehrte und an der Jerusalemer Universität ein Leben lang forschte, ist auch kein liberaler Vorzeige-Säkularer, eher ein religiös geprägter Intellektueller, dem freilich Vernunft, rationales Maß und Glauben keine Widersprüche sind. Könnte die Fachdisziplin der Religionspsychologie, die er maßgeblich geprägt hat, vielleicht als Resultat seiner Kindheitserinnerung an jenes „Deutsche Turnfest“ interpretiert werden? Ein Achselzucken als modeste Antwort: Professor Mordechai Rotenberg, geboren in Breslau, wohnhaft in Jerusalem, ist kein Freund des Selbstlobs.
Danach, auf der Rückfahrt nach Tel Aviv, die faszinierende Lektüre von „The Trance of Terror“, eine Art religiös forschende Ergänzung zu Elias Canettis Masse und Macht, die allerdings nicht nur religiöse Mantras als Gefahr für selbstständiges Denken beschreibt, sondern auch jene politische Korrektheit, die sich ja ebenfalls an der Wiederholung der ewig gleichen, pseudo-progressiven Formeln berauscht. Was für ein kraftvoller Einspruch gegen sich dumpf einlullendes Denken und Tun! Nur die interpretierte Nähe von Trance-Techno und Rave-Rhythmen zu seelischer und intellektueller Selbst-Entfremdung scheint mir ein wenig ungerecht. Schließlich sind es meine besten Freunde hier im Lande, die sich am sommerlichen Strand von Tel Aviv tagnächtlich diesen Soundbytes hingeben – ohne auch nur einen Gran ihrer Selbstreflexivität zu verlieren. Zumeist Soldaten auf Wochenendurlaub, schützen sie nämlich auch diesen Strand – Insel der Lebensfreude und Toleranz im blutigen Nahen Osten und einstiger Ankunftsort jenes kleinen Teils der Familie Rotenberg, die der deutschen Mordmaschinerie gerade noch hatte entkommen können.
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