„We can speak german, because the young man here comes from Breslau. from Wrocław!”
„Beseder, yoffi..”
„Aber lieber Herr Holzer, auf deutsch, bitte! Wie ich Ihnen bereits am Telefon hatte ausrichten lassen, ist der junge Mann – Literaturstipendiat im polnischen Wroclaw –extra hierher gekommen, um uns uralte Breslauer zu treffen. Ist das nicht schön?“
„Aber gewiss doch, mein lieber verehrter Dr. Sklarz! Und Sie, hochwillkommener Besucher, nehmen bitte Platz neben meinem Sitz da, da ich nicht mehr allzu gut zu Fuße bin mit meinen 93 Jahren. Währenddessen wird Ihnen Victor, meine großartige Haushaltshilfe aus den noch ferneren Philippinen, gewiss ein Glas kühles Wasser bringen, Labsal bei dieser Augusthitze, die auch des Abends noch anhält, wenngleich die Wände dieser Parterrewohnung ebenso gut kühlen wie jene in der Etage darüber, wo die Familie meiner Tochter lebt. Victor, bawakascha, would you please be so kind to bring some table water for our guest. Beseder?“
Nein, sie ziehen mitnichten irgendeine dreisprachige Höflichkeits-Show ab, der 1923 in Leipzig geborene und in Breslau aufgewachsene Gabriel Holzer und der etwas jüngere, 1935 in Breslau geborene Benjamin Sklarz. Ebenso wenig wie Dr. Sklarz´ charmante, feinsinnige Frau, die mich ein paar Stunden zuvor in perfektem Oxford-Englisch nach meinen Tea-Wünschen befragt hatte und mit ihrem Mann besprach, welche Art Früchte man am besten zum Afternoon-Cake reiche.
„Wundern Sie sich nicht! Als ich mit meiner Familie aus Breslau via Cuxhaven in England ankam, lebte meine zukünftige Frau mit ihren Eltern dort schon ein paar Jahre, ebenfalls geflüchtete deutsche Juden. Und so kommt es, dass wir beide fast immer englisch miteinander sprechen, eine freilich nicht auf unsere Kinder und Enkel ausgedehnte Angewohnheit, die wir auch nach unserer Übersiedlung nach Israel beibehalten haben.“
Was ebenfalls beibehalten wurde: Ein deutsch, das formidabel zu nennen noch eine Untertreibung wäre. Antiquiert, gar gespreizt? Im Gegenteil: Von einer solchen Nuanciertheit, die von Stilempfinden und Ethik zeugt: Denn die einfügten Nebensätze in Benjamin Sklarz´ Rede (und ein paar Stunden später, noch vehementer in den Erinnerungen von Gabriel Holzer), sind ja nicht irgendwelche Füllsel, sondern eingeschobene Überlegungen, Abschwächungen oder Verdeutlichungen – ein selbstreflexives Beinahe-Innehalten im Fluss der Rede.
Dabei hat der promovierte Chemiker, der trotz seiner 81 Jahre mit seiner hochgewachsenen Gestalt noch immer beinahe jugendlich-schlaksig wirkt, überhaupt nichts Pedantisches an sich. Eher ist es das Beibehaltene, was drei Jahre vor seiner Geburt in seiner einstigen Heimatstadt für lange Jahre verloren gegangen war: Anstand. Deshalb gar nicht so viel von sich selbst sprechen, sondern lieber vom „Verband ehemaliger Breslauer in Israel e.V.“. Aus dem Arbeitszimmer einen ganzen Stapel jener 28seitigen "Mitteilungen" holen, einer Publikation, die bis 2011 existierte und von der Treue der Breslauer Juden zur ihrer Geburtsstadt erzählte, von Besuchen im nunmehr polnischen Wroclaw, von Aktivitäten in der neuen Heimat Israel. "Aber wir sterben langsam aus und sollten wir etwa nur noch Todesanzeigen bringen?"
Benjamin Sklarz, orthodoxer Kippaträger, lebensweltlich liberal, von trockenem britischen Humor geprägt. Und dann doch wieder diese Genauigkeit: Dass ich doch bitte in diesem Blog-Eintrag nicht zu erwähnen vergesse, wem ich den Kontakt mit ihm zu verdanken habe, diesen Besuch in der Stadt Petach Tikva vor den Toren Tel Avivs: Dr. Katharina Friedla, die das Buch "Juden in Breslau/Wroclaw 1933 bis 1949" geschrieben hat und darüber hinaus wissenschaftliche Beraterin war des Dokumentarflms "Wir sind Juden aus Breslau. Überlebende Jugendliche und ihre Schicksale nach 1933", der im Herbst in Wroclaw (am 6.11. im Kino Nowe Horyzonty) und in Berlin (am 13.11. im Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum) seine Uraufführung erleben wird, in Polen dann auch in Anwesenheit von Benjamin Sklarz.
„Und bitte –bitte - schreiben Sie auch, wem wir die Großtat verdanken, dass unsere längst verschiedenen `Mitteilungen` nun vollständig online und von Lesern eingesehen werden können, damit die Geschichte der Breslauer Juden in Israel im Gedächtnis bleibe: Maximilian Eiden vom Schlesischen Museum in Görlitz und dem Historiker Ingo Loose. Sobald Sie wieder drüben in Tel Aviv sind, wird Sie der entsprechende Link erreichen, den Sie doch bitte Ihrem Blog hinzufügen mögen.“
(Was hiermit geschieht: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/7411685)
Hinzufügen mögen! Benjamin Sklarz sieht mein Lächeln –und bricht in Lachen aus. Und doch ist diese Sache mit den Namen alles andere aus eine Marotte oder Dankbarkeits-Routine. Vorbei an den gerahmten Familienbildern aus dem alten Breslau gehen wir hinüber ins Arbeitszimmer, wo mir auf dem (vom IT-affinen Sohn eingerichteten) PC die feine Strukturiertheit der Sklarzschen Korrespondenz präsentiert wird: Tabellen, gegenwärtige Adressen-Listen von jenen, die einst das unermessliche Glück gehabt hatten, nicht auf die Deportations-Listen ihrer deutschen Landsleute geraten zu sein. Ehemalige Breslauer, rund um den Globus verstreut und die Markierung im Falle von Ableben etwas sogenannt Normales, durch das hohe Alter erklärbar und nicht „durchgeführt“ von deutschen Einsatzgruppen oder wie die staatlichen Massenmörderbanden sich auch sonst noch benannt haben mochten.
„Sie kennen die Tagebücher von Willy Cohn, ja? Die Breslauer Aufzeichnungen bis zur Deportation im November 1941? Und Sie wissen, dass seine Enkelin ebenfalls in Israel lebt und die hebräische Übersetzung ediert hat? Ah, Frau Dr. Friedla hat Ihnen auch diese Adresse übermittelt, und schon morgen Vormittag fahren Sie mit dem Bus hoch nach Kiryat Tivon? Gut, gut... In einer der Cohnschen Tagebuch-Eintragungen vom Sommer 1939 ist auch mein Vater erwähnt, der im jüdischen Reformrealgymnasium am Rehdigerplatz 3 –heute Plac Pereca –unterrichtet hatte. Ein polyglotter Gelehrter, dessen Weitblick wir die Abreise aus Breslau verdanken, ganz kurz vor Toresschluss, ehe am 1. September der Weltkrieg begann. Auf dem Friedhof, an dem heute die Straße zum Wroclawer Flughafen vorbeiführt, befinden sich übrigens die Gräber meiner Großeltern. Quasi zeitig genug gestorben, um weder flüchten zu müssen noch erschossen oder vergast zu werden.“
Dennoch ist Benjamin Sklarz kein bitterer Mensch geworden. Greift nach kurzem Gespräch mit seiner Gattin zum Telefonhörer, erreicht einen gewissen Victor, spricht auf englisch und sagt dann: „Wie erfreut, Herr Holzer!“
Im Auto, ein paar Querstraßen durch das nunmehr abendliche Petach Tikva, singt er Kinderlieder: Aber dennoch hat sich Bolle janz köstlich amüsiert... „Sie müssen wissen, mein Vater war trotz oder gerade wegen seiner Gelehrtheit ein Freund der Schüttelreime. In England sind dann noch Limericks hinzugekommen...“
Und so sind wir dann schließlich zu früher Abendstunde in der Wohnung des 93jährigen Gabriel Holzer, der nach jener kurzen Sprach-Konfusion vom Hebräischen ins Englische schließlich in die deutsche Muttersprache zurückfindet und mir von seiner Schülerkindheit in Breslau erzählt. Und natürlich vom allseits beliebten Lehrer Willy Cohn, der freilich seit 1933 nur noch die Kleinen unterrichten darf, ehe er schließlich gänzlich aus dem Schuldienst geworfen wird. „Sie müssen wissen, junger Freund, Herr Cohn war einer jener ganz wenigen Lehrer, die Schülern in Erinnerung bleiben – aufgrund ihrer Menschlichkeit und ihrer Fähigkeit zur Empathie, die freilich scharfe Ironie nicht ausschloss, meinte doch zuweilen mein Lehrer, es gebreche mir mitunter an Ernsthaftigkeit.“ (Es gebreche mir mitunter an Ernsthaftigkeit - oh so schöne, bewahrte deutsche Sprache! An einem Abend in Petach Tikva, Israel.)
„Ich war 18, als ich über Triest in Haifa ankam und eine Stelle bei der Zollverwaltung fand, die damals, vor der Staatsgründung im Jahre 1948, selbstverständlich noch unter britischer Oberhoheit stand. Seither weiß ich, wie man in Büchern dünne goldene Uhren oder Geldscheine zu schmuggeln vermag – vorausgesetzt natürlich, man ist fähig, den Einband entsprechend zu manipulieren. Aber derlei waren die Beschäftigungen Anderer, nichts für mich.“
Herr Holzer ist dann beim Zoll geblieben, hat eine Familie gegründet, freut sich heute an seinen Enkeln und inzwischen sogar Urenkeln –und hatte mit seinem Freund Dr. Sklarz dann 2009 nochmals Wroclaw besucht, war die alten Straßen abgegangen.
„Wir waren ja auch in der Yorckstraße, der heutigen Ulica Jemiolova, wissen Sie noch? Meine Kindheits- und Jugenderinnerung: Ein schönes altes Haus voller Efeu. Dazwischen aber die Hakenkreuzfahnen. Und beides miteinander verwoben im Gedächtnis: Der idyllische Efeu und die Fahnen der Mörder.“
Vor allem aber das Geburtshaus des in Breslau geborenen Schriftstellers Emil Ludwig hatte man suchen wollen, war Ludwig doch in den zwanziger und dreißiger Jahren ebenso populär gewesen wie Stefan Zweig. „Auch er schließlich ein Vertriebener und heute fast Vergessener“, sagt Herr Holzer und rückt mit zitternden Greisenfingern die Kippa auf seinem Hinterkopf zurecht, während Dr. Sklarz mir mit diskretem Blick auf die Armbanduhr signalisiert, uns nun langsam auf den Weg zu machen, um die verbliebene Energie des alten Mannes nicht allzu sehr zu erschöpfen.
Plötzlich ein Lachen, unerwartet hell. „Ich sehe genau, wie Sie zur Uhr blicken, mein lieber, hochverehrter Herr Dr. Sklarz! Ehe jedoch unser Besucher, dessen Visite mich hocherfreut hat, mit dem Autobus Numero 82 heimgekehrt nach Tel Aviv, sei ihm ein letzter Blick auf meine gegenwärtige Abendlektüre erlaubt, denn Alter und Hinfälligkeit und Wehwehchen hin oder her –der Mensch muss sich rege halten, um zumindest ein bisschen den Geist über den Körper siegen zu lassen.“
Und das ist die Abendlektüre des Gabriel Holzer, geboren 1923 in Breslau: Emil Ludwigs voluminöse Goethe-Biographie, einst die Beinahe-Bibel des deutschen Bildungsbürgertums.„Manchmal erzähle ich Victor von unserem Goethe und er revanchiert sich mit Fabeln aus seiner philippinischen Heimat, deren Konklusionen oft sehr bedenkenswert sind. Beseder, Victor?“
„Beseder“, antwortet der freundliche Mann von den Philippinen auf hebräisch und schlägt vor, dass wir ein paar Erinnerungsfotos machen. „To keep the good memories...“
Dann verabschieden wir uns voneinander, meiden dunkel dräuende Bemerkungen á la „Vielleicht zum letzten Mal“, da ja doch ohnehin plötzlich alle besorgt sind, dass ich den nächsten Bus zurück nach Tel Aviv nicht verpasse. Im Auto zur Bushaltestelle singt Dr. Sklarz wieder deutsche Volkslieder. „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle...Kennen Sie das noch?“
Aber ja, ich hatte es nur seit meiner Kindheit nicht mehr gehört. Unvergesslicher Nachmittag und Abend in Petach Tikva, im Lande Israel, am östlichen Rand des Mittelmeers.
„Ich war 18, als ich über Triest in Haifa ankam und eine Stelle bei der Zollverwaltung fand, die damals, vor der Staatsgründung im Jahre 1948, selbstverständlich noch unter britischer Oberhoheit stand. Seither weiß ich, wie man in Büchern dünne goldene Uhren oder Geldscheine zu schmuggeln vermag – vorausgesetzt natürlich, man ist fähig, den Einband entsprechend zu manipulieren. Aber derlei waren die Beschäftigungen Anderer, nichts für mich.“
Herr Holzer ist dann beim Zoll geblieben, hat eine Familie gegründet, freut sich heute an seinen Enkeln und inzwischen sogar Urenkeln –und hatte mit seinem Freund Dr. Sklarz dann 2009 nochmals Wroclaw besucht, war die alten Straßen abgegangen.
„Wir waren ja auch in der Yorckstraße, der heutigen Ulica Jemiolova, wissen Sie noch? Meine Kindheits- und Jugenderinnerung: Ein schönes altes Haus voller Efeu. Dazwischen aber die Hakenkreuzfahnen. Und beides miteinander verwoben im Gedächtnis: Der idyllische Efeu und die Fahnen der Mörder.“
Vor allem aber das Geburtshaus des in Breslau geborenen Schriftstellers Emil Ludwig hatte man suchen wollen, war Ludwig doch in den zwanziger und dreißiger Jahren ebenso populär gewesen wie Stefan Zweig. „Auch er schließlich ein Vertriebener und heute fast Vergessener“, sagt Herr Holzer und rückt mit zitternden Greisenfingern die Kippa auf seinem Hinterkopf zurecht, während Dr. Sklarz mir mit diskretem Blick auf die Armbanduhr signalisiert, uns nun langsam auf den Weg zu machen, um die verbliebene Energie des alten Mannes nicht allzu sehr zu erschöpfen.
Plötzlich ein Lachen, unerwartet hell. „Ich sehe genau, wie Sie zur Uhr blicken, mein lieber, hochverehrter Herr Dr. Sklarz! Ehe jedoch unser Besucher, dessen Visite mich hocherfreut hat, mit dem Autobus Numero 82 heimgekehrt nach Tel Aviv, sei ihm ein letzter Blick auf meine gegenwärtige Abendlektüre erlaubt, denn Alter und Hinfälligkeit und Wehwehchen hin oder her –der Mensch muss sich rege halten, um zumindest ein bisschen den Geist über den Körper siegen zu lassen.“
Und das ist die Abendlektüre des Gabriel Holzer, geboren 1923 in Breslau: Emil Ludwigs voluminöse Goethe-Biographie, einst die Beinahe-Bibel des deutschen Bildungsbürgertums.„Manchmal erzähle ich Victor von unserem Goethe und er revanchiert sich mit Fabeln aus seiner philippinischen Heimat, deren Konklusionen oft sehr bedenkenswert sind. Beseder, Victor?“
„Beseder“, antwortet der freundliche Mann von den Philippinen auf hebräisch und schlägt vor, dass wir ein paar Erinnerungsfotos machen. „To keep the good memories...“
Dann verabschieden wir uns voneinander, meiden dunkel dräuende Bemerkungen á la „Vielleicht zum letzten Mal“, da ja doch ohnehin plötzlich alle besorgt sind, dass ich den nächsten Bus zurück nach Tel Aviv nicht verpasse. Im Auto zur Bushaltestelle singt Dr. Sklarz wieder deutsche Volkslieder. „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle...Kennen Sie das noch?“
Aber ja, ich hatte es nur seit meiner Kindheit nicht mehr gehört. Unvergesslicher Nachmittag und Abend in Petach Tikva, im Lande Israel, am östlichen Rand des Mittelmeers.
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