In memoriam Fritz Stern (Breslau 1926 – New York 2016)
"Am 30. Januar 1933, drei Tage vor meinem siebenten Geburtstag, hörte ich auf dem Heimweg von der Schule Zeitungsjungen ein Extrablatt ausrufen." Soeben war Hitler Reichskanzler geworden und für den protestantisch getauften Fritz Stern, jüngster Sprössling einer seit Generationen in Breslau ansässigen, assimilierten deutsch-jüdischen Familie, würde eine Welt zusammenstürzen.
Seine Eltern deuteten die Zeichen richtig und verließen mit ihm bereits im September '33 die schlesische Heimat. Blieben, voll düsterer Vorahnungen über die Zukunft Europas, nur für ein paar Jahre in Paris und setzten alles daran, die rettende Schiffspassage zu erhalten. Dorthin, wo Freiheit und Hoffnung war und Demokratie und der Willen, diese auch zu verteidigen – in die Vereinigten Staaten von Amerika des linksliberalen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt. Zeitlebens würde Fritz Stern, späterhin längst beidseits des Atlantik ein hochangesehener Historiker und Intellektueller, dieser Gestimmtheit treu bleiben: Eine feine Witterung für autoritäre, ja totalitäre Versuchungen und eine Loyalität gegenüber jenen Ideen und Menschen, die für eine offene und gleichzeitig wehrhafte Gesellschaft standen. Mit deutschen Gesinnungspazifisten konnte Stern deshalb ebenso wenig anfangen wie mit amerikanischen McCarthy-Leuten, Rechtfertigern des Vietnamkriegs und zynischen Machtpolitikern á la Richard Nixon oder Henry Kissinger.
Gleichwohl war der in den USA wie auch in der Bundesrepublik am Ende seines Lebens geradezu mit Preisen und Ehren überhäufte Fritz Stern kein moralisierender Künder des idealen Guten und Schönen. Trotz seines Witzes und seiner menschenfreundlichen Ironie ein strenger Denker, beendete er seine legendären Vorlesungen an der Columbia University gern mit den Zeilen aus Adam Wazyks "Gedicht für Erwachsene", das 1955 in Polen erschienen war und sich wendete gegen "die Geier der Abstraktion, die uns das Gehirn zerfressen".
Für ihn nämlich gab es nicht "die" Geschichte und schon gar keine deterministisch bestimmten Zwangsläufigkeiten. "Die Geschichte wusste nicht, was wir wissen." Umso wichtiger war es für Stern, aus dem Geschehenen Lehren zu ziehen – ganz konkret: Wetterfeste demokratische Institutionen, Gewaltenteilung und Presse- und Meinungsfreiheit, ergo eine liberale westliche Demokratie. Nach mörderischen Sonderwegen sah er das gegenwärtige Deutschland endlich im Westen angekommen, flankiert von den segensreichen Institutionen EU und NATO. Doch auch hier hier: Kein Kitsch, kein Eiapopeia: Noch in seinen letzten Interviews vor einigen Wochen warnte der geistig wach gebliebene 90-jährige vor den durchgeknallten west- und osteuropäischen Rechtspopulisten, aber auch vor den Gefahren, die in seiner Wahlheimat von einem brandgefährlichen Irrläufer wie Donald Trump ausgingen. "Für jemanden, der sich Zeit seines Lebens für eine tolerante Gesellschaft engagiert hat, ist dieser jetzt zu beobachtende Siegeszug des Illiberalismus etwas sehr, sehr Trauriges."
Als Ideenhistoriker zog er nämlich Vergleiche, hatten doch bereits in der Weimarer Republik rechtskonservative Ideologen die Schwächen des parlamentarischen Systems instrumentalisiert, um der Öffentlichkeit ihre Version einer Gesellschaft anzudienen. Angeblich "rein", radikal völkisch, ethnisch homogen und politisch gleichgerichtet – ein "drittes Reich", wie einer dieser Propagandisten bereits Anfang der zwanziger Jahre gefordert hatte. Gerade deshalb müsste man Fritz Sterns wohl wichtigstes Buch jetzt noch einmal lesen: "Kulturpessimismus als politische Gefahr" ist als seine Dissertation bereits 1953 erschienen und bleibt doch – ähnlich wie etwa Czesław Miłosz´ "Verführtes Denken" – von ungebrochener, beunruhigender Aktualität. Vor allem jene, die auch heute nicht müde werden, der angeblich verweichlichten liberalen Gesellschaft den Totenschein auszustellen, könnten sich hier wiedererkennen in jenen nur vermeintlich idealistisch-religiösen, im Grunde jedoch krankhaft nihilistischen Desperados der zwanziger Jahre. Wie treffend hatte sie der humane Agnostiker Fritz Stern beschrieben: "Sie waren die Ankläger, aber unwissentlich auch ein Zeugnis dessen, was sie anklagten."
Unvergessen auch, was nach seiner Meinung einen wahren Patrioten ausmachte: Einen, der empathisch und sensibel genug ist, sich mitunter auch für das eigene Land zu schämen.
Fritz Stern war Ehrenmitglied unseres "PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland". Gern hätte ich ihn, den als ebenso grundgütig wie unbestechlich Beschriebenen, auch einmal persönlich getroffen. Bei der nächsten USA-Reise, dachte ich oft, bei der nächsten … Jetzt ist es dafür zu spät; am 18. Mai ist Fritz Stern in New York gestorben Was bleibt, ist die Erinnerung an ein geradezu exemplarisches Leben, sind aber vor allem seine Bücher, Sterns lebenslanger Einspruch gegen Irrationalismus und menschenverachtende Hysterie. What a man.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen