Sonntag, 8. Mai 2016

Unterwegs mit Peter Pragal.

Am Wochenende tagte die "Deutsch-Polnische Gesellschaft der Universität Wroclaw (Breslau)" hier in der Stadt und feierte ihr nunmehr 15jähriges Bestehen. Was unter der langjährigen Leitung ihres Präsidenten Prof. Norbert Heisig und seines Vizepräsidenten, des Universitäts-Rektors Prof. Marek Bojarski, für die Alma Mater geleistet wurde, würde wohl jeden Blog-Eintrag sprengen.  Aber auch die Biographien ihrer Mitglieder, Enthusiasten und Experten, sind spannend, und so bin ich auf Stadttour verabredet mit Peter Pragal. Der 1939 in Breslau geborene und 1944 mit Mutter und Geschwistern aus der Stadt geflüchtete spätere Journalist hat eines jener Bücher geschrieben, die mich geradezu magnetisch hierher nach Wroclaw gezogen haben.

Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland ist nämlich trotz des nostalgischen Titels keine konventionelle "Ehemaligen"-Prosa, sondern erzählt konzis und spannend von  "der Suche nach Heimat". Als der Autor, damals als Reporter für den Stern, im Jahre 1980 zum ersten Mal in die Stadt zurückkehrte, störte er sich an der kommunistischen Geschichtsklitterung, welche die Jahrhunderte lange deutsche Prägung zu verschweigen trachtete. In der Bundesrepublik rieb er sich gleichzeitig an jenen Heimatvertriebenen, die die Primärursache – den 30. Januar 1933 – am liebsten verdrängten oder doch zumindest relativierten.

In seinem Buch beschreibt Peter Pragal, wie sich in  den seither vergangenen Jahrzehnten die Atmosphäre entspannte – in Polen fiel der Kommunismus und in Deutschland so manche Scheuklappe. "Heute fühle ich mich hier nicht als geduldeter Fremder, sondern als willkommener Gast, der seine Vaterstadt besucht."

Und so beginnt unsere kleine  Tour am Bronze-Torso, der im Schatten der Elisabeth-Kirche an den 1906 in Breslau geborenen und 1945 im KZ ermordeten Nazigegner Pfarrer Bonhoeffer erinnert – die Original-Statue steht in Berlin an der Zionskirche. Pragal, der als Journalist bereits Politiker wie den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau und den damaligen Bundestagspräsidenten auf Wroclaw-Besuchen begleitet hatte, ist gleichzeitig Faktenkenner und Stadtliebhaber. Woher diese Mischung aus Empathie und Wissen? Erstes mag ein Charakterzug sein, zweites ein Resultat unerschöpflicher Neugier, die zum Beispiel in den Antiquariaten  Wroclaws gestillt (und weiter angefacht) werden kann, wo noch so mancher Schatz aus Breslauer Tagen zu bergen ist.


Was für ein Vergnügen deshalb, mit ihm im Mai-Sonnenlicht über die Oder-Brücke an der Ulica Pomorska zu flanieren und die Geschichte hören, wie er eines Tages im nahe gelegenen Staatsarchiv seine Geburtsurkunde fand. Auch jetzt hat Peter Pragal sie als Kopie dabei, das Original geschrieben in alter  Sütterlin-Schrift. Und dennoch: Kein Kitsch, denn wenn sich für ihn selbst mit dieser unerwarteten Entdeckung die eigene Lebensgeschichte auch gerundet hatte – unzähligen anderen Menschen blieb dieses Glück verwehrt. Und so wechseln wir von seinem Vaterhaus in der heutigen Ulica Jedn. Narodowej in Höhe des ehemaligen Waterloo-Platz auf die gegenüberliegende Straßenseite und betrachten vor Hausnummer 95 die vier "Stolpersteine", die dem Andenken von vier Breslauer Juden gewidmet sind. Nur einer überlebte Dank des"Kindertransportes" nach England, die anderen wurden 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.






Nicht etwa politische Korrektheit führt unsere Schritte, und auch keine Mission. Um was es geht, ist die Vergegenwärtigung der Vergangenheit, ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen, ohne in die Fallstricke selektiver Erinnerung zu geraten. Und keine moralische Großtat ist dies, sondern pure Selbstverständlichkeit. Wie bewegend, mit jemandem, der hier 1939 geboren wurde, durch die gegenwärtige, sich so frühsommerlich präsentierende Stadt zu gehen, und die urbane Schönheit nicht gegen das einstige Geschehen auszuspielen, keine Deklamations-Worte zu machen, sondern einfach zu schauen. Vielen Dank, lieber Peter Pragal!
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